Statement des Regisseurs

 

Papier ist geduldig. Es gab nicht wenige Momente, in denen ich den Drehbuchautor, also mich selbst, verfluchte. Szenen mit 100 Statisten, viele Schauplätze und das Ganze im historischen Ambiente sind für einen Low-Budget-Film eine schwere Zumutung. Zusätzlich noch ein Ensemble von 30 tragenden Rollen, was ein mehrmonatiges extrem intensives Casting bedingte.

Ruby und Martin müssen ferner eine Spanne von 10 Jahren und einen emotionalen Bogen von jugendlicher Naivität bis zur desillusionierten Alkoholikerin und einem Ex-Knacki glaubwürdig darstellen. Schon beim ersten Casting von Victoria Schulz, die Britt Beyer vorschlug, bekam Ruby ein Gesicht. Es gab keine Zweifel. Als Anton Spieker zum Casting kam, war ich zuerst skeptisch, Anton entsprach nicht nur äußerlich in keiner Weise meinem inneren Bild von Martin. Der Autor hatte Martin als dunkelhaarig und schlaksig beschrieben. Doch Antons Talent und die Energie, mit der er sich die Rolle aneignete, brachten das ursprüngliche Bild zum Verschwinden, bis kein anderer mehr als Anton für die Rolle vorstellbar war. Normalerweise entwickle ich beim Schreiben eine klare visuelle Vorstellung des Films. Im Kopf ist der Film gedreht und dann muss ich nur versuchen, diese Vorstellung umzusetzen. In diesem Fall wollte sich der Film vor meinem geistigen Auge nicht einstellen. Ich wusste alles über die Psyche und Biographien meiner Figuren, was sie in jedem Moment sagen und - genauso wichtig – was sie verschweigen.

Der Befreiungsschlag kam aus einer unerwarteten Richtung: ökonomischer Zwang. Wenn wir den Film "normal" gedreht hätten, wäre es in der Drehzeit unmöglich zu schaffen gewesen. Streichungen wären die naheliegende Antwort gewesen, doch ich wusste, dass dies den Film zerstören würde. Der Kameramann Frank Amann brachte es auf den Punkt: Nur, wenn wir hauptsächlich Handkamera einsetzen gäbe es die Möglichkeit, dieses Pensum zu schaffen.

Da ich eine gewisse Aversion gegen den pseudoauthentischen Dogma-Stil habe, brauchte es einige Zeit, mich mit der Tatsache anzufreunden. Ich kannte aber Franks Arbeit als Dokumentarkameramann. Er hat die Begabung auch in nicht planbaren Situationen großartige Kinobilder zu machen und intuitiv immer die wichtigen Momente zu finden. Den Film in dieser Weise zu drehen war eine der besten Entscheidungen, die ich jemals getroffen hatte.

VON JETZT AN KEIN ZURÜCK war für die Schauspieler und die Techniker eine riesige Herausforderung, weil fast alle Szenen von A-Z durchgedreht wurden.

Die Vorgabe war: Egal was passiert, wir werden einen Take nicht wiederholen, sondern ihn aus einer anderer Perspektive wieder zur Gänze durchdrehen. So lange, bis wir soviel Material haben, dass wir für jeden Moment aus einem Take einen perfekten Moment für den Schnitt haben.

Zusätzlich gewöhnten wir uns an, Takes nicht mit dem im Drehbuch vorgesehenen Ende abzubrechen, sondern die Kamera weiter laufen und die Darsteller improvisieren zu lassen. Manchmal war der Nachlauf 15 Minuten lang. Dies waren magische Momente, in denen die Figuren plötzlich zu einem Leben jenseits des Scripts erwachten.

So konnten wir nicht nur alle Szenen drehen, sondern hatten für den Schnitt noch einen Überschuss an Material, von dem sehr viel in den Film Eingang gefunden hat. Wir konnten wir beim Montieren des Filmes in die Vollen greifen und unter vielen Optionen auswählen.

 

Über das Drehbuch

 

Godard sagte einmal, dass die interessantesten Filme wohl die weggeworfenen Ideen der Drehbuchschreiber wären, die nie die Schublade verlassen.

Auf meiner Festplatte, das heutige Äquivalent zur Schublade, entsorgte ich vor längerem die Idee zu einem Film über eine Schlagersängerin, die eher zufällig als gewollt in der Maschinerie der Unterhaltungsindustrie landet. Die Musik, die sie eigentlich machen will, verkauft sich nicht. Hinter der heilen Schlagerfassade macht sich Selbsthass breit, den sie mit Alkohol und Drogen "kuriert", bis es zur Katastrophe kommt. Eine weitere Karteileiche war eine Geschichte, stark autobiographisch geprägt, in der ich meine Jugend in der Provinz thematisierte. Unter anderem meinen kläglich missglückten Versuch, mit fünfzehn von zu Hause abzuhauen. Da ich als Nachzügler relativ alte Eltern habe, die noch von Krieg und Nachkrieg geprägt waren und Provinz damals noch wirklich von der Welt abgeschnitten zu sein bedeutete, sind die Themen und Widerstände, mit denen ich mich herumschlagen musste, nicht so verschieden von dem, womit Ruby und Martin im Film zu kämpfen haben. Diese Drehbuchidee scheiterte an meiner inneren Stimme: "Nur, weil es dir passiert ist, muss es noch nicht interessant sein!"

Dann gab es vor einigen Jahren eine folgenreiche Begegnung mit einem Mann, den man als Jugendlichen in ein Heim eingewiesen hatte und der mir seine traumatischen Erlebnisse erzählte.

Mein erstes Gefühl war Wut. Wie konnte man so mit Kindern und Jugendlichen umgehen? Wie konnte es geschehen, dass man so viele Leben systematisch zerstörte? Nicht in einer fernen Zeit und einem exotischen Land, sondern in der BRD bis in die 70er Jahre hinein. Ich fing Feuer für dieses Thema. Ich wollte unbedingt diese verborgene Geschichte sichtbar machen.

Die Recherche begann zu einer Zeit, als kaum noch etwas über das Thema publiziert war und meine Hauptquelle die Gespräche mit ehemaligen Heimkindern darstellte. Das hatte den Vorteil, dass der unmittelbare emotionale Aspekt beim Schreiben im Vordergrund stand.

Ich wurde so mit Geschichten und Details konfrontiert, die schwer auszuhalten sind.

Und eines war mir von Anfang an klar: die Vorgänge im Heim müssen im Film authentisch erzählt werden. Erfindungen oder Übertreibungen verbieten sich.

Dann wurde durch das Buch "Schläge im Namen des Herren" Heimerziehung zum bundesweiten Thema. Ein Runder Tisch befasste sich mit der Geschichte der Opfer. Ein verschwiegenes Kapitel, die Geschichte von ca. 500.000, wurde endlich thematisiert. Ehemalige Heimkinder gingen an die Öffentlichkeit.

Die Schreibkrise ließ aber dennoch nicht lange auf sich warten. Denn Heimfilme und auch Gefängnisfilme sind ja ein eigenes Genre: Protagonist landet in einer Umgebung, in der eigene Gesetze herrschen. Er/sie wird unerträglichen Zuständen ausgeliefert und kämpft dagegen an. Ein Szenario von Macht und Ohnmacht, das eigentlich nur wenige befriedigende Schlüsse zulässt: Die (gescheiterte) Revolte, den (versuchten) Ausbruch oder den (Selbst)mord. Es ist zwar richtig, dass alle Geschichten im Grunde schon einmal erzählt wurden, aber um so wichtiger ist es, eine Geschichte anders zu erzählen. "Film bildet nicht die Realität ab, sondern eine Vorstellung der Realität" (Enno Patalas).

Anfänglich dachte ich, dass die Idee, die Geschichte eines Paares zu erzählen schon ausreicht, die Perspektive zu erweitern.

Immerhin kann man dadurch verschiedene Aspekte beleuchten. Die katholischen Nonnen, die mit Strenge, Schlägen und Gebeten den "gefallenen Mädchen" den rechten Glauben einbläuen und die protestantischen, am soldatischen Ideal von Männlichkeit orientierten Heime wie Freistatt haben zwar das gleiche Ziel, aber andere Verfahrensweisen und Vorstellungen. Gemeinsam ist ihnen, dass durch harte körperliche Arbeit und die absolute Kontrolle die Jugendlichen gebrochen werden sollten. Durch Gebete, Schläge und Drill sollten aus ihnen angepasste Untertanen werden. Alles interessant, trotzdem hatte ich das Gefühl, in einer Sackgasse zu sein: Schublade!

Eines Tages erwachte ich und ich wusste es: Die Kleinstadterzählung, die kaputte Schlagersängerin und die Heimgeschichte sind Teile eines Films.

Christian Frosch

 

 

 

 

Filmstill

 

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